Der unstillbare Hang zur EXTREME

„Sport ist Mord!“, lautet schon ein bekanntes Sprichwort, was allerdings bzgl. seines Wahrheitsgehalts sowie angesichts der stark wachsenden Zivilisationskrankheiten wie Adipositas oder Diabetes mellitus Typ 2 berechtigterweise mehr als skeptisch betrachtet werden kann. Eine kleine Ausnahme bilden hierbei ausschließlich so manche Extremsportarten, die dieser Binsenweisheit vereinzelt berechtigterweise durchaus einen Funken Wahrheit verleihen.
Ausgestattet mit einem an eine Fledermaus erinnernden „Wingsuit“ von einer Plattform eines Berges in die Tiefe springen und mit nahezu 250 Stundenkilometer im freien Fall über Täler bzw. durch Gebirgsketten gen Erde „gleiten“, ungesichert und ohne technische Hilfsmittel eine 1000 Meter hohe Gebirgswand hochklettern oder gleichsam ohne Sicherung in schwindelerregender Höhe auf einem „Schlauchband“, gespannt zwischen zwei Wolkenkratzern, Berggipfeln oder Schluchten, balancieren…
Nein, keine Sorge, es handelt sich hierbei nicht etwa um neu erdachte Disziplinen der diesjährigen ASVÖ-M8000, die anlässlich ihres achtjährigen Jubiläums die teilnehmenden Athletinnen und Athleten vor „neue“, noch nie dagewesene Herausforderungen stellt, sondern ausschließlich um einen kleinen Auszug von Extremsportarten, die sich, so scheint es, aus unterschiedlichen Beweggründen auch immer mehr bei Freizeitsportlern größerer Beliebtheit erfreuen. Ganz gleich ob nun beim Wingsuit Base-Jumping, Free Solo Klettern, Apnoetauchen oder Highlining, der Extremvariante des allseits bekannten und vergleichsweise schon „unschuldig“ wirkenden Slacklinings, Extremsportarten, die erstmals Anfang der 80er-Jahre aufkamen, sind heute so angesagt wie nie zuvor. Doch egal ob zu Lande, zu Wasser, in der Luft oder in Schnee und Eis, schon die steigende Tendenz, selbst beim Sport verstärkt lebensgefährliche Risiken einzugehen und dadurch die Grenzen des vermeintlich menschlich Möglichen immer wieder aufs Neue „auszuloten“, gibt verständlicherweise zugleich Anlass zur Frage nach dem WARUM! Ist es der Wunsch nach Aufmerksamkeit? Nach Ruhm, der angeblich jedem Menschen im Laufe seines Lebens für 15 Minuten zusteht? Oder schlicht und ergreifend die (Sehn-)Sucht nach vollkommener Freiheit bzw. der Suche nach dem besonderen „Kick“, abseits einer inzwischen durch und durch geregelten, risikofreien, überzivilisierten Welt?

Aus sportpsychologischer Sicht liegt die Antwort klar auf der Hand: So handelt es sich beim Extremsport nicht wie stets vermutet ausschließlich um die Suche nach dem besonderen Nervenkitzel, sondern wird als Motiv oftmals auch die bewusste Auseinandersetzung mit Angst und Kontrolle in Verbindung mit der dadurch resultierenden Steigerung des Selbstwerts und des Identitätsgefühls angeführt. Auch der Wunsch etwas Außergewöhnliches zu erleben und sich Erlebnisse gemäß eigenen körperlichen und geistigen Fähigkeiten zu erarbeiten werden in diesem Zusammenhang häufig als leitende Triebfeder genannt. Gleichsam können auch nicht bewältigte Lebensanforderungen (psychologische) Ursachen für den Extremsport sein.

Auf welche Weise sportliche Vorlieben „ausgelebt“ werden, hängt darüber hinaus auch von der eigenen Persönlichkeit bzw. dem individuellen Charakter einer Person ab. Während die einen eher gerne an altbekannten, vertrauten und klassischen Sportarten festhalten, begeben sich andere wiederum permanent auf die Suche nach Neuem und Unbekanntem mit noch intensiverem Erfahrungspotenzial (= „sensation seeking“).
Extremsportler geht es demzufolge um den sogenannten „Flow“, ein Zustand, in dem sich alles geradezu mühelos anfühlt, der Mensch eins mit sich selbst wird, voll und ganz in seinem Tun aufgeht und den er folglich immer wieder erreichen möchte. Das Verlassen der eigenen Komfortzone und das Sammeln von immer neueren, komplexeren Eindrücken, in denen es darum geht, Bestleistungen zu erbringen, gelten somit als typisch charakteristisch für den Extremsport bzw. für „High Sensation Seeker“, wie Art Sportler ebenfalls genannt werden können.

Wo nun genau die Grenze zum Extremsport verläuft, ist (wissenschaftlich) schwer zu definieren, da einerseits die Auffassung von „extrem“ individuell ist und es sich andererseits bei extremen Sportarten auch oftmals um eine „Weiterentwicklung“ klassischer Sportvariationen handelt.  Eine grobe Strukturierung derlei sportlicher Adaptionen ließe sich bestenfalls angesichts der damit verbundenen psychischen und physischen Belastbarkeit sowie Risikobereitschaft festmachen, die in den jeweiligen Disziplinen vorherrschend sind. So kann in diesem Sinne zwischen den Kategorien „Risikosport“ (= Sport mit potenziell hohem Risiko), bei dem Fehler rasch zu schweren Verletzungen oder gar zum Tod führen können (z.B. Base Jumping, Free Solo Klettern, Highlining, …), „Extremsport“ (= Sportarten mit dem Ziel einer sehr hohen Ausdauerleistung; z.B. Ultramarathons, Apnoetauchen, …) und „Fun Sportarten“, für die zumeist kein spezielles Training erforderlich ist (z.B. Bungee Jumping), unterschieden werden.
Dabei gilt es zu betonen, dass sich professionelle Risiko- und Extremsportler – obwohl dies für Außenstehende oftmals äußerst schwer nachzuvollziehen ist – sehr wohl über die Risiken und Gefahren für Gesundheit und Leben bewusst sind und sich nicht etwa leichtfertig diversen Gefahrensituationen ausliefern und beispielsweise aus reinem Jux von Klippen oder Gebirgsplattformen springen.

Neben der akribischen Vorbereitung sowie einer tadellosen Ausrüstung zählen freilich auch äußere Umstände wie etwa das Wetter und ein gutes situatives Gespür für die vorherrschenden Bedingungen eine tragende Rolle.  Unter diesem Aspekt vermittelt das risiko- sowie zielbewusste Betreiben von Extremsport gleichsam bedeutende Werte, die auch im alltäglichen Leben bzw. klassischen Sportarten eine große Bereicherung darstellen. Hierzu zählen etwa Zielstrebigkeit, Genauigkeit, Demut, Motivationsstärke und Teamfähigkeit. So gesehen ist ein bisschen „risk for fun“ durchaus auch im Sport legitim, wenngleich es nicht zwingendermaßen gleich ein ungesicherter Balanceakt in bzw. Sprung aus luftigen Höhen sein muss!